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Eingespielt

Neue Musicalaufnahmen

von Mario Stork

Tina

Tina – Das Tina Turner Musical    ●●●●○
(Original Hamburg Cast 2019)
Während die Musicaltheater noch immer aufgrund der Corona-Pandemie geschlossen sind, hat Stage Entertainment ein kleines Trostpflaster für alle ‘Tina’-Fans veröffentlicht. Der Mitschnitt aus dem Hamburger Operettenhaus ist endlich auch als physischer Tonträger erhältlich, und das mit ausgesprochen wertiger Aufmachung: Die CD kommt im kleinen Büchlein mit gold glänzendem Logo-Druck daher; mitgeliefert werden die kompletten Songtexte und zahlreiche Fotos aus der Show und dem Tonstudio. Dass es sich einerseits um eine Live-Aufnahme handelt (der Applaus des Publikums ist dankenswerterweise vergleichsweise dezent gemischt worden), andererseits aber auf besagten Studio-Bildern auch die Interpreten am Mikro zu sehen sind, legt den Schluss nahe, dass der eine oder andere Part nachträglich bearbeitet wurde. Auffällig oder gar störend ist dies beim Hören allerdings nicht. Das Ensemble erweist sich als gut eingespielt und transportiert eine positive Energie. Kristina Love verkörpert die Titelrolle und punktet mit Stimmpower und kraftvollen Phrasierungen, die dem Original Tribut zollen, jedoch immer wieder auch eigene Akzente setzen. Eine derart urgewaltige, differenzierte Darstellung wie Adrienne Warren auf der Londoner Castaufnahme gelingt Love hier jedoch nicht gänzlich. Gino Emnes gibt als Ike Turner den charmanten Verführer, ist insgesamt aber fast einen Hauch zu nett. Auch die Darbietungen der übrigen Solisten wie Adi Wolf (Gran Georgeanna) oder Trevor Jackson (Anna Mae Bullocks Vater) reichen nicht ganz an die jeweiligen Rollenvorgänger der Uraufführung heran. Dafür rockt die Band unter Leitung von Tobias Vogt sehr tight und mitreißend. Dass der Funke erst in der Mitte des Castalbums überspringt, wenn Hits wie “Higher”, “River deep – mountain high” oder “Proud Mary” einander Schlag auf Schlag folgen, kann also nicht an den Musikern liegen. Vermutlich trägt dazu der Umstand bei, dass es zunächst irritiert, die bekannten Evergreens von Tina Turner teilweise, auch mitten im Lied wechselnd, in deutscher Sprache zu hören. Dies ist natürlich dramaturgisch bedingt: Als eines der besten Compilation Musicals der letzten Jahre ist es den Buchautoren von ‘Tina’ (Katori Hall, Frank Ketelaar und Kees Prins) hervorragend gelungen, die Songs nicht nur in Konzert- oder Tonstudio-Situationen einzubauen, sondern auch in gezielt platzierten Momenten, in denen die bekannten Lyrics geschickt die Gedanken und Emotionen der Figuren widerspiegeln. Ebendiese handlungstragenden Lieder erklingen hier auch auf Deutsch. Kevin Schroeder und Sera Finale zeichnen für diese Übersetzungen verantwortlich, mit oft gelungenem Ergebnis wie bei “Ich kann einfach nicht mehr streiten” (“I don't want to fight”) oder “Ich werd' weitertanzen” (“Private dancer”). Gelegentlich klingen die deutschen Übertragungen aber ziemlich bemüht (“Das sind die Nutbush City Limits”) – wobei zugegebenermaßen diese Aufgabe auch keine leichte war. Wenig hilfreich ist auch, dass man oft tatsächlich die im Booklet abgedruckten Texte zur Hand nehmen muss, um nachzuvollziehen, was da gerade gesungen wird – sowohl diverse Ensemblemitglieder als auch Hauptdarstellerin Kristina Love sind teilweise sehr schwer zu verstehen. Trotzdem bleibt unterm Strich eine gelungene Cast-CD, die nicht ganz mit dem Londoner Pendant mithalten kann, aber trotz kleiner Schönheitsfehler letztlich einen überzeugenden Eindruck der Hamburger Produktion vermittelt.

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Wir – Familie ist, was man draus macht!

Wir – Familie ist, was man draus macht!    ●●○○○
(Original Hamburg Cast 2020)
Nach dem Erfolg von ‘Jana & Janis’, für das sie 2018 mit dem Deutschen Musical Theater Preis für die besten Liedtexte ausgezeichnet wurden, legt das Autoren- und Songwriter-Duo Lukas Nimscheck und Franziska Kuropka nun den Nachfolger auf CD vor. Eingespielt mit der Originalbesetzung aus dem Hamburger Schmidtchen, erzählt ‘Wir …’ eine hervorragend in die Zeit passende Geschichte in Form einer Feelgood-Komödie, gewürzt mit einem Plädoyer für Gleichberechtigung und Toleranz: Christian, Magnus, Sabine und Natalie sind zwei frisch verheiratete Paare, die sich jeweils nichts sehnlicher als ein Kind wünschen. Das “Problem” ist bloß: Es handelt sich um zwei homosexuelle Beziehungen. Also müssen die legalen und biologischen Möglichkeiten ausgelotet werden, was die Vier bald auch nach ihrem Kennenlernen im LGBT-Beratungszentrum gemeinsam angehen … Ein (leider immer noch) relevantes Thema also, verpackt in eine Musical Comedy. Musikalisch gehen Nimscheck und Kuropka konsequent den mit ‘Jana & Janis’ eingeschlagenen Weg weiter, setzen auf Synthesizer-lastige Songs im Grenzbereich zwischen Deutsch-Pop und Schlager. Das wirft hier und da ganz nette Melodien und Lieder ab (“Heute ist dieser Tag”, “Ich bin dein Fan”, “Ich liebe mein Leben” oder “Vielleicht”), aber so richtig will diese Partitur auf CD nicht zünden. Gäbe es statt der Synthie-Playbacks eine richtige Band, könnte das Material möglicherweise noch mehr Potenzial entfalten. Dazu gesellt sich der Umstand, dass die Songtexte zwar bewusst mit Klischees spielen, dabei aber selbst oft nicht gerade innovativ daherkommen (“Schwule und Lesben”). Erschwert wird der Zugang zu diesem Stück auch dadurch, dass dem Album keinerlei Informationen bezüglich Handlung, Einordnung der Songs in den Kontext oder auch nur Besetzung der jeweiligen Titel beigefügt wurden. Nicht einmal die Rollennamen der sechs Darsteller (Robin Brosch, Kathi Damerow, Janko Danailow, Charlotte Heinke, Steffi Irmen und Veit Schäfermeier) werden erwähnt; wer gerade welches Lied interpretiert, muss man sich ergoogeln. Diese Kritik ändert natürlich nichts daran, dass sich alle Künstler mit Verve in ihre Rollen werfen und im Rahmen der durch Komposition und Text vorgegebenen Möglichkeiten tolle Leistungen abliefern. Bei allen Abstrichen muss unbedingt positiv erwähnt werden, dass (wie schon bei diversen früheren Veröffentlichungen aus dem Schmidts-Tivoli-Kosmos) alle Mitwirkenden auf ihre Honorare und Tantiemen verzichten und diese an Hamburg Leuchtfeuer spenden.

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Rags

Rags    ●●●●●
(Original London Cast 2020)
Eigentlich hätte man das Musical ‘Rags’ schon völlig abschreiben können, nachdem es die Original-Broadway-Produktion im Jahr 1986 auf gerade einmal vier (!) reguläre Aufführungen brachte. Doch das Kreativ-Team, bestehend aus Joseph Stein (Buch), Charles Strouse (Musik) und Stephen Schwartz (Liedtexte) gab das Stück nicht auf, arbeitete immer wieder daran, die (größtenteils wohl strukturell bedingten) Probleme in den Griff zu bekommen. Nach dem Tod von Stein entstand schließlich mit dem neuen Buchautor David Thompson eine völlig umgeschriebene Version, teilweise auch mit neuen oder umgestellten Liedern, die nun plötzlich funktionierte und dazu führte, dass die Show 34 Jahre nach ihrer Uraufführung Anfang 2020 auch erstmals in London zu sehen war. Dankenswerterweise brachte diese Produktion ein Castalbum hervor, das die revidierte Fassung enthält und (neben einer Studioeinspielung mit Mitgliedern des Broadway Cast von 1987) die erst zweite offizielle Aufnahme einer reichhaltigen Partitur darstellt, die mit zum Besten gehört, was Charles Strouse (‘Annie’) komponiert hat.

‘Rags’ war ursprünglich als eine Art Fortsetzung von Joseph Steins bekanntestem Musical ‘Fiddler On The Roof’ gedacht und erzählt, wie jüdische Immigranten zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihre Ankunft in Amerika erleben und versuchen, sich in dieser neuen Welt zurechtzufinden. In der Originalfassung war das Libretto ein breit angelegtes Zeitgemälde mit vielen verschiedenen Charakteren; die neue Version konzentriert sich auf das Schicksal einer Familie und platziert diese vor den historischen Hintergrund. Thematisch erinnert dies natürlich an das ähnlich angelegte ‘Ragtime’, das auf E. L. Doctorows Roman basiert. Auch musikalisch gibt es bei ‘Rags’ Parallelen zum rund zehn Jahre später entstandenen Meisterwerk von Stephen Flaherty und Lynn Ahrens. Charles Strouse kombiniert seinen traditionellen Broadway-Stil effektvoll mit Klezmer-Elementen, Jazz, Ragtime, Sousa-Märschen und vor allem zahlreichen berückend gesetzten Ensemblepassagen. Gleich die ersten paar Nummern nehmen den Hörer unweigerlich gefangen, von der Melancholie der Solovioline im “Opening” (auch dies eine Referenz an ‘Fiddler On The Roof’) und dem diese Stimmung fortführenden “If we never meet again” über das flotte “Greenhorns”, das als Reaktion der Amerikaner auf die ankommenden Einwanderer schon einige der Grundthemen des Stücks etabliert, bis zum optimistisch-aufgeregten “Brand new world”. Es folgen zahlreiche gelungene Songs, die gelegentlich im durchkomponierten Stil ineinander übergehen und die Geschichte und Konflikte der Figuren perfekt illustrieren. Zu grandiosen Musicalsongs wie “Edge of a knife”, “Friday night prayers”, “Rags”, “Yankee boy”, “Wanting”, “Three sunny rooms”, “Bread and freedom” oder “Children of the wind” tragen neben den inspirierten Kompositionen auch die nuancierten, hier gewitzten, dort poetisch einfühlsamen Liedtexte von Stephen Schwartz bei (dessen neue Show als Komponist, ‘The Prince Of Egypt’, kurz vor dem Corona-Lockdown in London Premiere hatte und ebenfalls noch in diesem Herbst auf CD erscheinen soll).

Zum überragenden, emotional fesselnden Gesamteindruck dieses unterbewerteten, auf triumphale Weise wiederbelebten Musicals trägt auch die Combo unter Leitung von Joe Bunker bei, die nur mit Klavier, Schlagzeug, Bass, Trompete und Posaune besetzt ist, aber von vier Ensemblemitgliedern unterstützt wird, die als Klezmer-Band noch zwei Violinen, Akkordeon und Klarinette beisteuern, sodass Nick Barstows Orchestrierung niemals zu dünn klingt. Der Cast, allen voran Carolyn Maitland (Rebecca), Dave Willets (Avram), Martha Kirby (Bella), Sam Attwater (Max), Alex Gibson-Giorgio (Sal), Oisin Nolan-Power (Ben) und Debbie Chazen (Anna Blumberg), überzeugt durchweg mit lebendigen, intensiven Interpretationen. Schließlich gibt es noch ein informatives und reich bebildertes Booklet inklusive der Liedtexte dazu – was will man als Musicalliebhaber mehr? Die Cast-CD des Monats!

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A Letter To Harvey Milk

A Letter To Harvey Milk    ●●●●○
(Original Off-Broadway Cast 2018)
Den Mord an San Franciscos Stadtrat Harvey Milk (1930–1978), dem ersten offen schwul lebenden Politiker der Vereinigten Staaten, verarbeitete schon Andrew Lippa zu seinem bewegenden, theatralischen Oratorium ‘I Am Harvey Milk’. Das Musical ‘A Letter To Harvey Milk’, das erstmals 2012 beim New York Musical Festival als Workshop-Produktion gezeigt wurde und sechs Jahre später seine Off-Broadway-Premiere feierte, nutzt das Verbrechen und seine Nachwirkungen für die LGBTQ-Community in Amerika nicht als vordergründige Handlung, sondern als Folie für eine eigene Erzählung über Menschlichkeit und Freundschaft. Die Autorinnen Ellen M. Schwartz (die zehn Monate nach dem ursprünglichen Workshop ihres Stücks verstarb) und Cheryl Stern erzählen, basierend auf Lesléa Newmans gleichnamiger Kurzgeschichte, von Harry, einem koscheren Fleischer im Ruhestand, der einen Kurs für kreatives Schreiben bei der lesbischen Barbara am örtlichen Jüdischen Gemeindezentrum belegt. Barbara stellt ihm die Aufgabe, einen Brief an eine verstorbene Person zu verfassen. Statt an seine Frau Frannie, deren Geist ihn in seinen Träumen heimsucht, schreibt Harry an seinen vor acht Jahren ermordeten Freund Harvey Milk. So entwickelt sich eine spezielle Beziehung zwischen Schüler und Lehrerin, durch die beide etwas über das Leben und sich selbst lernen.

Komponistin Laura I. Kramer schuf für dieses Musical eine Partitur, die den typischen Off-Broadway-Stil und swingende Shownummern mit jiddischer Stilistik und atonalen Momenten kombiniert. Das Ergebnis klingt fast durchweg spannend, passend zur Handlung und immer wieder sehr emotional, etwa im sich brillant vom eher unscheinbar beginnenden Solo zur fesselnden Chornummer steigernden “Love, Harry”. Aber auch flotte Songs wie “Turning the tables”, “No one'll do for you” und “Weren't we” oder die Balladen “Frannie's hands” und “Love is a woman” gefallen auf Anhieb. Ned Paul Ginsburg schrieb die erfreulich abwechslungreichen Arrangements für ein Quartett aus Klavier (musikalische Leitung: Jeffrey Lodin), Percussion, Cello und Flöte bzw. Klarinette. Den Großteil der Lieder bestreiten Adam Heller (Harry) und Julia Knitel (Barbara) mit angenehmen Stimmen und einfühlsamer Interpretation. Sie schaffen es im Rahmen dieser Castaufnahme spielend, ihre Charaktere lebendig werden zu lassen und den Zuhörer auf ihre Reise mitzunehmen. Als Frannie hat Co-Texterin Cheryl Stern einige gelungene Auftritte; Michael Bartoli überzeugt u.a. als Harvey Milk im Duett mit Harry “I'm gonna do for you”. Die übrigen sechs Ensemblemitglieder übernehmen kleinere Rollen und veredeln vor allem die Ensemblenummern mit schön und effektvoll geschriebenen Vokalsätzen.

Auch die Aufmachung der CD mit ausführlichem Booklet (inklusive Liner Notes, Liedtexten und Fotos) im Digipack lässt keine Wünsche übrig. Der einzige Wermutstropfen ist der Preis, der in etwa das Doppelte dessen beträgt, was üblicherweise für ein Castalbum (als physische Einzel-CD) verlangt wird; der Preis für die digitale Version liegt im normalen Bereich. So rettet man den Tonträgermarkt definitiv nicht … Dennoch: ‘A Letter To Harvey Milk’ ist ein berührendes, kleines Musical, das zu entdecken sich definitiv lohnt.

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Something's Afoot

Something's Afoot    ●●●○○
(Studio Cast 2019)
Schon 1976 erlebte diese Musical-Krimi-Komödie nach der Uraufführung 1972 in Atlanta und diversen US-Produktionen (u.a. in Washington, D.C., San Francisco und Los Angeles) ihre Broadway-Premiere, 1977 folgte eine Aufführungsserie im West End. Obwohl das Stück auch danach auf den Spielplänen zahlreicher Amateur- und Regionaltheater stand, gab es nie eine offizielle Castaufnahme. Rund 50 Jahre nach seiner Entstehung schließt das rührige britische Label Jay Records nun mit einer Studioeinspielung diese Lücke. ‘Something’s Afoot’ mit Buch, Musik und Texten von James McDonald, David Vos und Robert Gerlach (zusätzliche Musik von Ed Linderman) erzählt eine archetypische Krimihandlung, die als Tribut an die Genreklassiker (vor allem aus der Feder von Agatha Christie) gedacht ist: Auf dem ländlichen Anwesen von Lord Dudley Rancour versammeln sich auf dessen Einladung sieben Gäste und drei Hausangestellte in Erwartung eines unbeschwerten Wochenendes. Dass es damit nichts wird, ahnen die unfreiwilligen Schicksalsgenossen spätestens, als man Lord Dudley tot auffindet. Einer nach dem anderen werden nun die Anwesenden brutal ins Jenseits befördert, während die Überlebenden in einem Wettlauf gegen die Zeit versuchen, den Täter zu ermitteln … Das überraschende Ende soll hier bewusst nicht verraten werden. Auf CD präsentiert sich das Werk zwar als gute Unterhaltung mit oft witzigen Songtexten, musikalisch wirkt die Partitur jedoch mittlerweile etwas angestaubt. Sie klingt in ihrer bunten Mischung aus traditioneller Music Hall, old-fashioned Showtunes, Märschen, etwas Jazz und einem Hauch Latin passend zur Handlung typisch britisch, passt wahrscheinlich auch wunderbar, wenn man das Stück auf der Bühne erlebt, doch nach einem Ohrwurm oder überhaupt einem Song, der länger im Gedächtnis bleibt, sucht man vergebens. Nett anzuhören sind die mal flotten, mal balladesken Melodien von “Carry on” und “I don't know why I trust you (but I do)” über “The man with the ginger moustache” und “The legal heir” bis zu “You fell out of the sky” und “I owe it all” aber auf jeden Fall. Bei Dirigent Craig Barna ist diese von Dan DeLange stilgerecht orchestrierte Partitur in besten Händen – nur warum finden sich im Booklet keinerlei Credits der beteiligten Musiker? Sollte es sich um mit Hilfe von Samples und virtuellen Instrumenten erstellte Playbacks handeln, sind diese jedenfalls extrem gut gemacht. Produzent John Yap versammelte eine enorm spielfreudige Besetzung, die an den verschiedenen Figuren hörbar Spaß hat und auch in den Ensemblesätzen gut miteinander harmoniert. Stellvertretend für alle Beteiligten seien hier Sally Ann Triplett (Lady Grace Manley-Prowe), Susie Blake (Miss Tweed), Laura Pitt-Pulford (Hope Langdon), Keith Merrill (Nigel Rancour) und Scott Hunter (Geoffrey) genannt. Für Krimifans ist diese obskure Ausgrabung sicher ein Vergnügen, ansonsten dürfte sie eher für Musicalarchivare und akribische Komplettsammler einen Gewinn darstellen.

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Celebration

Celebration    ●●●●○
(Original Broadway Cast 1969)
Das Kreativduo aus Autor und Liedtexter Tom Jones und dem Komponisten Harvey Schmidt kennen deutsche Musicalbesucher vor allem durch die Werke ‘The Fantasticks’, dessen ursprüngliche Off-Broadway-Produktion eine alle Rekorde brechende Laufzeit von 42 Jahren erreichte, sowie ‘Das musikalische Himmelbett’ (Originaltitel ‘I Do! I Do!’), die auch hierzulande hin und wieder gezeigt werden. Kennern ist vielleicht noch ‘110 In The Shade’ ein Begriff, die meisten anderen Arbeiten des Teams sind jedoch bei uns kaum verbreitet. Mit ihrem 1969 uraufgeführten ‘Celebration’ versuchten sie, ähnlich wie zur gleichen Zeit damals ‘Hair’, dem Genre neue Impulse zu geben, sowohl dramaturgisch wie musikalisch. Formell ist das Werk an uralte Riten angelehnt und inhaltlich bildet es eine Art Kommentar darüber, wie man in einer immer mehr vor die Hunde gehenden Welt sein Leben und seine Moralvorstellungen gestalten soll (zynisch gedacht erscheint der Zeitpunkt, das Original-Broadway-Castalbum erstmals auf CD wiederzuveröffentlichen, also ziemlich passend). Vier Darsteller, unterstützt von einer Art griechischem Chor, bestreiten die Handlung nach Art einer Fabel: Der Erzähler, Potemkin (Keith Charles), führt den idealistischen Waisenjungen Orphan (Michael Glenn-Smith) sowie den kapitalistischen, gierigen und brutalen Mr. Rich (Ted Thurston) zusammen und lässt so zwei grundlegend verschiedene Weltsichten und Standpunkte aufeinanderprallen. Zwischen diesen beiden Männern muss sich das Mädchen Angel (Susan Watson) entscheiden: Soll sie ihren Gefühlen für Orphan nachgeben oder doch lieber die materielle Sicherheit wählen, die Rich ihr bieten kann?

Mit nur 109 Aufführungen war ‘Celebration’ am Broadway nicht gerade erfolgreich, aber es ist allemal eine Wiederentdeckung wert. Da der mittlerweile 92-jährige Tom Jones in den letzten Jahren eine Überarbeitung seines Librettos erstellt hat, würde sich dieses ambitionierte Konzeptmusical sicher gut für kleine Produktionen anbieten. Harvey Schmidts Partitur ist auf jeden Fall interessant: Sie setzt weder allein auf traditionellen Broadway-Sound noch auf die aggressiven Rockrhythmen, die mit ‘Hair’ ins Musicalgenre Einzug hielten. Vielmehr nimmt er diese und viele weitere Zutaten, mischt sie mit der lyrischen Klangsprache, die man auch von seinen anderen Kompositionen (etwa für ‘The Fantasticks’) kennt, und kreiert so ein buntes Potpourri, das aber nie beliebig wirkt, weil jeder Song einen seinem Inhalt entsprechenden Stil erhält, der teilweise auch mitten in der Nummer ironisch gebrochen wird. Das Opening mit dem Titelsong ‘Celebration’ etwa startet erstmal recht traditionell, nett, aber wenig aufregend, bis plötzlich ein Mambo-Rhythmus dem Stück einen überraschenden Kick verleiht; “My garden” oder “Love song” beginnen als hübsche, innige Balladen, nehmen aber jeweils einen unerwarteten Verlauf – ersteres steigert sich zum mitreißenden Showstopper, letzteres zu einer großen, vom Chor getragenen Hymne, die fast schon kämpferisch wirkt. Walzer, Pop, Jazz, Latin sind weitere Ingredienzien dieses Musicals, kompetent gespielt von einer neunköpfigen, ungewöhnlich besetzten Band aus drei Keyboards, drei Percussionisten, Harfe, Gitarre und Bass (Orchestrierung: Jim Tyler, musikalische Leitung: Rod Derefinko). Auch die vier Solisten sowie der Chor lassen keine Wünsche offen, sodass sich nicht nur Musicalhistoriker über diese spannende Ausgrabung freuen dürften.

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Rory Six: My Songbook – Volume 1

My Songbook – Volume 1    ●●●●○
(Rory Six)
Wenn aufgrund einer Pandemie Liveaufführungen und Konzerte verboten sind, muss man als Künstler auf das Internet ausweichen – oder produziert CDs. Rory Six, Musicaldarsteller, Komponist und Leiter der Theatercouch in Wien, startete schon zu Beginn des Lockdowns in Österreich eine Reihe von Streaming-Konzerten via Facebook. Aus diesem Projekt entstand das Vorhaben, endlich ein schon lange angedachtes Soloalbum mit Songs aus seinen eigenen Musicals zu produzieren. Mithilfe einer Crowdfunding-Aktion konnte Rory Six dieses Vorhaben realisieren. Das Ergebnis enthält zwölf Lieder aus fünf verschiedenen Musicals. Besonders interessant für Fans dürften dabei die bisher nicht auf CD erhältlichen Titel sein: Der Musical-Psychothriller ‘Namen an der Wand’, zu dem noch kein Castalbum erschien, ist gleich mit zwei Nummern vertreten. Der packende, dramatische Titelsong macht dabei ebenso Lust auf mehr wie die erzählerische Ballade “Pinselstrich”. Doch auch bei den bekannteren Auszügen aus ‘Luna’, ‘Wenn Rosenblätter fallen’ oder ‘Ein wenig Farbe’ ist es spannend, diese vom Komponisten selbst interpretiert zu hören. Six schlüpft mit ausdrucksstarkem Gesang in jeden einzelnen Charakter (gleich, ob es sich im jeweiligen Musical um einen Mann oder eine Frau handelt), verkörpert ihn intensiv und lebt diese Songs mit jeder Faser. Dabei begleitet sich der Komponist selbst mit großer dynamischer Bandbreite am Klavier. Eine eindrucksvolle Zwischenbilanz, die man als Album wunderbar durchhören kann, und die zugleich sicherlich wunderbar als akustisches Portfolio für Produzenten und Intendanten funktionieren dürfte. Da Rory Six seiner CD den Titelzusatz “Volume 1” gegeben hat, darf man auf eine Fortsetzung hoffen. Material sollte ausreichend vorhanden sein.

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Disney Dreamin’ With Matthew Morrison

Disney Dreamin’ With Matthew Morrison    ●●●●○
(Matthew Morrison)
Mit der musikalischen Welt von Disney kam Matthew Morrison schon 2003 beruflich in Berührung, als er die Titelrolle bei den New Yorker Workshops der Musicalfassung von ‘Tarzan’ verkörperte. Neben Engagements in so unterschiedlichen Broadway-Produktionen wie ‘Hairspray’, ‘The Light In The Piazza’ oder zuletzt ‘Finding Neverland’ sorgte vor allem seine Mitwirkung im TV-Hit ‘Glee’ dafür, dass er einem breiten Publikum bekannt wurde. Nun legt er sein drittes Soloalbum vor, das sich als Hommage an den großen Disney-Songkatalog versteht. Erfreulich an dieser CD (die Morrison seinem Sohn Revel widmet) ist vieles; als Erstes fällt aber die ungewöhnlich breite Liedauswahl auf. Neben den “üblichen Verdächtigen” präsentiert der Sänger einige seltener gecoverte Songs, und das in erfrischend neu arrangierten Versionen: “When I see an elephant fly” aus ‘Dumbo’ rockt ordentlich, “The second star to the right” aus ‘Peter Pan’ wird zum besinnlichen Wiegenlied, “A dream is a wish your heart makes” aus ‘Cinderella’ kommt in dieser Fassung mit sonnigem Reggae-Groove daher, das sonst gern leicht ins Schwülstige abdriftende “When you wish upon a star” aus ‘Pinocchio’ punktet durch die hier vermittelte swingende Leichtigkeit. Aber auch die bei einer solchen Veröffentlichung zu erwartenden Hits jüngeren Datums (meist aus Alan Menkens Feder) erstrahlen in immer wieder überraschenden musikalischen Gewändern: Während der Opener “Friend like me“ (aus ‘Aladdin’) noch erwartungsgemäß jazzig klingt, wirken der zweite ‘Aladdin’-Titel “A whole new world” (im Duett mit der stimmgewaltigen Shoshana Bean) sowie “Go the distance” (‘Hercules’) durch die geänderten Taktarten auf spannende Weise frisch. Auch der ‘Tarzan’-Hit “You'll be in my heart” gewinnt durch mehr Tempo und gelungenen Aufbau ordentlich an Drive. Matthew Morrison interpretiert all diese Songs mit einer angenehmen Stimme, die zwar seine Musicalausbildung immer wieder durchscheinen lässt, sich aber auch zurückzunehmen weiß. Jedem einzelnen Lied lässt Morrison derart die passende Stimmung angedeihen. Man merkt beim Zuhören, dass er den ausgewählten Titeln persönlich zugetan ist. So demonstriert das von Marco Marinangeli produzierte und arrangierte Album, was ein frischer Zugang und musikalische Fantasie auch aus oft gehörten Songs herausholen können. Wenn diese CD mit dem fröhlichen Medley aus “Zip-a-dee-doo-dah” (‘Onkel Remus' Wunderland’) und “The bare necessities” (‘Das Dschungelbuch’) nach viel zu kurzen 30 Minuten zu Ende ist, möchte man direkt auf den Repeat-Knopf drücken. Die Solo-CD des Monats!

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This Is The Greatest Show

This Is The Greatest Show    
(Various)
Das Timing für die jüngste Kooperation von Sound of Music und Semmel Concerts war bitter: Die groß angelegte Tournee von ‘This Is The Greatest Show’ mit einem Repertoire aus Filmmusical-Hits (von aktuellen Blockbustern wie ‘The Greatest Showman’ und ‘A Star Is Born’ bis hin zu Klassikern des Genres wie ‘Grease’ oder ‘Flashdance’) stand nach weit über einem Jahr Vorbereitungszeit in den Startlöchern, aber nur die ersten beiden Konzerte durften noch gespielt werden, bevor der Corona-Lockdown kam und alle weiteren geplanten Termine vorerst abgesagt bzw. ins Jahr 2021 verschoben werden mussten. Um den Fans die Wartezeit zu verkürzen, ist nun ein Livealbum mit Highlights aus dem Programm, das bei den ersten zwei Shows in Düsseldorf mitgeschnitten wurde, erschienen. Darauf zu hören sind neben den vier Starsolisten Jan Ammann, Mark Seibert, Michaela Schober und Roberta Valentini ein zwölfköpfiges, namhaft besetztes Ensemble, aus dem sich bei den auf dieser CD vertretenen Songs Karolin Konert, Christina Patten und Karolien Torensma auch solistisch hervortun. Begleitet werden die Interpreten von einer sechsköpfigen Band unter der Leitung von Philipp Gras (musikalischer Supervisor: Bernd Steixner). Da ich Arrangements zu dieser Produktion beigesteuert habe, verzichte ich auf eine Bewertung.

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Cats

Cats    ●●○○○
(Blu-ray (Region B) / DVD (RC 2))
Was hat dieser Film nicht schon alles einstecken müssen: Einen regelrechten Shitstorm nach Veröffentlichung des ersten Trailers, gefolgt von einer Überarbeitung der CGI-Effekte, während der Streifen schon in den Kinos lief, und vernichtende Kritiken, gipfelnd in der Verleihung der “Goldenen Himbeere” als schlechtester Film 2020 (sowie in diversen weiteren Kategorien). Wer die nach Jahrzehnten endlich realisierte Leinwandversion von Andrew Lloyd Webbers Kultmusical im Kino verpasst hat, kann sich nun per Blu-ray oder DVD ein eigenes Bild davon machen, ob der Film wirklich so schlimm ist, wie alle (oder wenigstens die meisten) behaupten. Mein Fazit: Ein klares Jein.

Die Kritik an der Veränderung der Handlung muss relativiert werden, denn ein Film ist nun einmal ein anderes Medium als ein Musical. Wenn eine Revue, die (wenn überhaupt) nur eine sehr lose erkennbare Story in sich birgt, auf der Bühne funktioniert, gilt das nicht unbedingt auch für die Leinwand. Gelungen erscheint in diesem Sinne die Entscheidung, die Katze Victoria (verkörpert von der brillanten Ballerina Francesca Hayward, die für einige der tänzerisch poetischsten Momente sorgt) zur Identifikationsfigur für das Publikum zu machen: Sie wird zu Beginn von ihrer Familie ausgesetzt, muss sich plötzlich in einer ihr fremden Welt zurechtfinden und sucht Anschluss an die Bande der “Jellicle Cats”, die sie nach und nach in ihr buntes, schräges Universum einführen und letztendlich als eine der ihren akzeptieren. Gut gemeint ist auch die deutlich erweiterte Handlung um Bösewicht Macavity (klischeehaft schurkisch mit leicht selbstironischem Einschlag gespielt von Idris Elba): Da er selbst von Old Deuteronomy für ein neues Katzenleben im sphärischen Raum ausgewählt werden möchte, entführt er nach und nach alle Konkurrenten auf ein Boot an der Themse. Doch so ganz funktioniert dieser Plot nicht: Wie der Gauner es schafft, sich selbst und andere Figuren einfach so wegzuzaubern, sei bei einem Film, dessen Logik und Sinnhaftigkeit sowieso nicht hinterfragt werden darf (es geht immerhin um singende und tanzende Katzen!), einfach mal akzeptiert. Aber wenn es den Gefangenen eigentlich so leicht fällt, sich zu befreien, wie letztlich dargestellt, warum haben sie das dann nicht von vornherein getan?

Ein größeres Problem stellt tatsächlich die Optik dar. Zwar sehen die Katzenmenschen längst nicht so gruselig aus, wie von manchen behauptet, hier sorgt die Computertechnik eigentlich nur für eine moderne, zeitgemäße Version der Kostümierung, die man von der Bühnenfassung her kennt. Aber die Perspektiven stimmen hinten und vorne nicht: Auf den Londoner Straßen wirken die Charaktere im einen Moment verglichen mit den Häusern im Hintergrund so groß wie normale Menschen; dann plötzlich tanzen sie auf Eisenbahnschienen und sehen damit verglichen so winzig aus wie Mäuse. Fantasiewelten sind dann glaubwürdig, wenn sie in sich stimmig erscheinen, und das ist Regisseur Tom Hooper nicht gelungen.

Sein größtes Versäumnis aber ist, dass die Energie, die die Bühnenshow von ‘Cats’ immer verströmte, in der Verfilmung viel zu selten spürbar ist; wenn überhaupt, dann ansatzweise bei “Jellicle songs for Jellicle cats” und beim “Jellicle ball”. Andere Nummern verlieren gewaltig im Vergleich zur Bühnenfassung, sei es durch die fehlende Schlagkraft der Tanzsequenzen (Choreografie: Andy Blankenbuehler) oder durch einen immer wieder völlig deplatzierten Humor (nicht nur bei der Gumbiekatze), bei dem man nicht weiß, ob das nun selbstironisch sein soll oder wirklich lustig gemeint ist – in letzterem Fall wäre das Ergebnis zum Fremdschämen. Immerhin reißen einige Darbietungen der illustren Starbesetzung (Ian McKellens distinguierter Gus, Judi Denchs mitfühlende weibliche Version von Old Deuteronomy oder Jennifer Hudsons kraftvolle Grizabella) einiges raus. Rein musikalisch wirkt ausnahmsweise die deutsche Synchronisation gelungener, weil hier endlich einmal wirklich ausgewiesene Musicalprofis singen dürfen, darunter Namen wie Patrick Stanke, Sabrina Weckerlin, Patricia Meeden, Carin Filipcic, Andreas Bongard oder Philipp Büttner.

Die hier rezensierte Blu-ray besticht mit brillantem Bild und sattem Ton; das Bonusmaterial umfasst gut 40 Minuten an verschiedenen Making of-Featurettes sowie einen Audiokommentar von Tom Hooper.

Schlussendlich muss sich jeder selbst ein Bild von diesem Film machen. Ganz so schlimm wie allgemein angenommen ist er nicht, aber eben auch nicht wirklich gut, trotz all des betriebenen Aufwands und der namhaften Darstellerriege. Musicalfans dürften nach wie vor zur DVD mit der Original-Bühnenversion greifen.

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